Aufgabe 19-8, Lösung

Ein Kettenglied in Form einer gelochten Kreisscheibe wird durch die Zugkräfte F belastet. Man ermittle nach der Theorie des stark gekrümmten Trägers

  1. den Verlauf der Radialverschiebung,
  2. die Verläufe von Biegemoment und Normalkraft und die maximalen Normalspannungen in den beiden Symmetrieschnitten des Kettenglieds,
  3. die horizontale Vergrößerung und die vertikale Verjüngung des Durchmessers.

Gegeben:   F = 1000 N ;    Ra = 62 mm ;    Ri = 42 mm ;    t = 5 mm ;    ν = 0,3 ;    E = 210000 N/mm2 .

Wegen der doppelten Symmetrie braucht nur ein Viertel eines Kettengliedes betrachtet zu werden (Skizze links). In der Skizze rechts sieht man das Symmetrieviertel mit den “Lagerreaktionen” in den Symmetrieschnitten, wobei die beiden Kraft-Gleichgewichtsbedingungen bereits ausgenutzt wurden. Es verbleiben zwei unbekannte “Einspannmomente”, für die nur noch eine Gleichgewichtsbedingung zur Verfügung steht: Das Problem ist einfach statisch unbestimmt.

Nebenstehend sind vergrößert die Schnittgrößen in Abhängigkeit von einer Winkelkoordinate zu sehen. Normalkraft und Biegemoment ergeben sich aus Gleichgewichtsbedingungen zu:

Diese Beziehugen können in die Differenzialgleichungen für die Verformungsberechnug des Kreisbogenträgers (z. B. Formel 19.18 in “Dankert/Dankert. Technische Mechanik”) eingesetzt werden:

In diesen Differenzialgleichungen ist u die Tangentialverschiebung, v die Radialverschiebung, E der Elastizitätsmodul, A die Querschnittsfläche (hier: A = (Ra-Ri) t = 100 mm2), R der Radius der Schwerpunktfaser (hier: R = (Ri+Ra)/2 = 52 mm ) und κ der Querschnittsparameter für den gekrümmten Träger, der sich für den Rechteckquerschnitt nach der Formel (siehe z. B. “Dankert/Dankert. Technische Mechanik”, Seite 309)

berechnen lässt (mit der Höhe des Rechteckquerschnitts, der für das aktuelle Problem h = Ra-Ri = 20 mm beträgt).

Die erste der beiden Differenzialgleichungen ist eine inhomogene lineare Differenzialgleichung zweiter Ordnung mit konstanten Koeffizienten. In “Dankert/Dankert. Technische Mechanik” werden auf Seite 318 allgemeine Hinweise zum Finden einer Partikulärlösung und damit auch zur allgemeinen Lösung dieser Differenzialgleichung gegeben. Sie lautet für das hier behandelte Problem:

Diese Lösung kann in die oben angegebene zweite Differenzialgleichung eingesetzt werden, und man erhält durch eine einfache Integration, bei der eine weitere Integrationskonstante erzeugt wird, die allgemeine Lösung für die Tangentialverschiebung:

Diese beiden allgemeinen Lösungen enthalten neben den drei Integrationskonstanten das unbekannte Moment MB, so dass vier Randbedingungen erforderlich sind (hier: Tangentialverschiebung in beiden Symmetrieschnitten gleich Null und erste Ableitung der Radialverschiebung in beiden Symmetrieschnitten ebenfalls Null):

Nach einfacher, aber etwas mühsamer Rechnung erhält man:

Damit ergeben sich die Funktionen für die Radialverschiebung

und das Biegemoment

Die Spannungen in einem Querschnitt können nach der Formel (vgl. z. B. “Dankert/Dankert. Technische Mechanik”, Seite 309)

berechnet werden. Hierin ist y die Querschnittskoordinate, die ihren Ursprung im Schwerpunkt des Querschnitts hat und nach außen gerichtet ist (für das aktuelle Problem liegt also der Punkt am Innenradius bei y = -10 mm, der Punkt am Außenradius bei y = 10 mm).

Das maximale Biegemoment tritt bei φ = 0 (Punkt B) auf, dort verschwindet die Normalkraft:

In diesem Querschnitt ergibt sich am Innenrand die Spannung σB,i = - 56,2 N/mm2, am Außenrand errechnet man σB,a = 43,4 N/mm2.

Die maximale Normalkraft findet man bei φ = π/2 (Punkt A):

In diesem Querschnitt ergibt sich am Innenrand die Spannung σA,i = 38,2 N/mm2, am Außenrand errechnet man σA,a = - 20,6 N/mm2.

Die Vergrößerung des Durchmessers in horizontaler Richtung erhält man mit der oben bereits angegebenen Formel für die Radialverschiebung zu

und die Verjüngung des Durchmessers in vertikaler Richtung kann mit der gleichen Formel zu

berechnet werden.

Die gleiche Aufgabe ist mit dem Matlab-Femset-Interface mit der Finite-Elemente-Methode berechnet worden. Ein Vergleich der Ergebnisse zeigt, dass die Theorie des gekrümmten Trägers sowohl für die Verformungs- als auch für die Spannungsberechnung sehr gute Ergebnisse liefert.

Nachfolgend soll noch der Vergleich mit der Theorie des schwach gekrümmten Trägers angestellt werden. Der Vergleich der Differenzialgleichungen nach beiden Theorien (vgl. Gleichungen 19.18 und 19.21 in "Dankert/Dankert: Technische Mechanik") bzw. der Spannungsformeln zeigt, dass mit

Aufg19_8KappaUebergang05

(siehe z. B. Gleichung 19.14 in "Dankert/Dankert: Technische Mechanik", I ist das Flächenträgheitsmoment, A die Querschnittsfläche) die Formeln der Theorie des stark gekrümmten in die Formeln des schwach gekrümmten Trägers übergehen. Wenn in die oben errechneten Formeln diese Substitution eingesetzt wird, ergeben sich die in der folgenden Tabelle zusammengestellten Ergebnisse:

 

 Δdhoriz [mm]

 Δdvertikal [mm]

 σA,i [N/mm2]

 σB,i [N/mm2]

Stark gekrümmter Träger

0,03078

- 0,02527

38,2

- 56,2

Schwach gekrümmter Träger

0,03144

- 0,02589

33,9

- 49,1

Fazit:

  • Für die Verschiebungsberechnung lohnt sich der Mehraufwand, der mit der Theorie des stark gekrümmten Trägers verbunden ist, bei dieser Aufgabe (wie eigentlich bei den meisten Aufgaben) nicht.
     
  • Bei der Spannungsberechnung ist zu beachten, dass die Theorie des stark gekrümmten Trägers größere Werte liefert. Man liegt also mit der einfacheren Rechnung nicht auf der sicheren Seite, zumal die Unterschiede der Ergebnisse nach den beiden Theorien deutlich größer sind als bei der Verschiebungsberechnung.
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