Liebe Absolventen, sehr geehrte Gäste, liebe Mitarbeiter aus dem Hause,
weil diesmal die einleitende Entschuldigung für den Zustand unserer Aula entfallen kann – Sie sehen, der Raum hat seine Jahrhundert-Renovierung bekommen -, erlaube ich mir gleich am
Anfang eine kleine - hier eigentlich nicht so recht hineinzupassen scheinende - Abschweifung. Weil sie aber sehr schön zu dem überleitet, was ich dann sagen möchte, will ich Ihnen erzählen, warum ich – Sie
werden es gar nicht bemerkt haben – meine Anrede an Sie im Vergleich mit den letzten Absolventenverabschiedungen geändert habe.
Ich habe die Hauptpersonen dieser Veranstaltung bisher immer als
"frischgebackene" Diplomingenieure angeredet und bin nun nicht mehr ganz sicher, ob der "frisch gebackene" Dipl.-Ing. eigentlich noch als solcher bezeichnet werden darf. Der 1. August 1999, der Tag, an dem
die Rechtschreibreform in Kraft gesetzt wurde, macht mir zu schaffen. Vorher gab es die klare Regel, - ich zitiere den alten Duden - "den Bedeutungswandel von Wortverbindungen, die in einem
übertragenen Sinne gebraucht werden, durch Zusammenschreibung auszudrücken": Einen Stoff besonders schön färben ist von der
Bedeutung etwas ganz anderes als das "Schönfärben" oder "Schönreden", das heute in der Politik den wesentlichen Teil des
Tagesgeschäfts ausmacht. Und um den Färber mit seiner schönen und nützlichen Arbeit nicht mit dem Politiker mit seiner ganz anders
gearteten Arbeit in einen Topf zu werfen, wurden die beiden orthographisch unterschiedlich behandelt. Der eine hat schön gefärbt
und der andere hat schöngefärbt. Diese Schönfärberei war immer meine Eselsbrücke für Getrennt- und Zusammenschreibung, und
tatsächlich hat sie die Rechtschreibreform unbeschadet überstanden. Stoffe werden noch immer schön gefärbt, und politische Ungereimtheiten werden schöngefärbt.
Aber "frischgebacken" wird nicht mehr, fragen Sie mich nicht, warum. Das Wort "frischgebacken" - im übertragenen Sinne gebraucht
- ist durch die Rechtschreibreform verschwunden. Getrennt geschrieben lässt es bei mir doch immer die Assoziation mit dem
Backvorgang aufkommen und zusammengeschrieben existiert es nicht mehr. Übrigens: "Getrennt geschrieben",
"Zusammengeschrieben", manchmal – so meint man – sind die neuen Rechtschreibregeln doch ganz einfach: "Getrennt geschrieben"
wird tatsächlich getrennt geschrieben, "zusammengeschrieben" wird nach der Rechtschreibreform zusammengeschrieben. Und wer
darin eine gewisse Logik erkennen möchte, muss sich natürlich überlegen, ob "falsch geschrieben" nun tatsächlich falsch geschrieben
und "unleserlich geschrieben" nun tatsächlich unleserlich geschrieben werden muss.
Und wenn wir nicht ganz sicher sind, ob eine im übertragenen Sinne gebrauchte Redewendung überhaupt noch erlaubt ist, sollte man
vielleicht neue erfinden. Statt "frisch gebacken" würde ich z. B. den jungen Dipl.-Ing. dann viel lieber als "frisch gebraten" (oder
"gegrillt") bezeichnen und damit die Hoffnung auf die typische Oberkellnerfrage nach der Art der Zubereitung verbinden, um auf die
Vermutung "Medium?" stolz antworten zu können: "No, well done." Und Sie merken es schon: Die Rechtschreibreform fördert die
Tendenz zu den Anglismen, und weil wir im deutschen Hochschulwesen ohnehin die permanenten Reformer sein müssen, wird der
Dekan an Stelle der "frischgebackenen Diplom-Ingenieure" in der Zukunft sicher "well done barbecued Bachelors and Masters" verabschieden.
Diese Einleitung hatte ihren Sinn als Überleitung zu der folgenden Passage meiner Rede: Ich möchte den Gästen und Angehörigen der
Absolventen, über deren Erscheinen zu dieser Veranstaltung wir uns immer besonders freuen, ein paar Informationen geben über
das, was die Absolventen hier in den vergangenen Jahren geleistet und durchlitten haben. Es war vor allen Dingen die
naturwissenschaftlich-technische Grundausbildung in den ersten Semestern, die Probleme bereitet hat: Im Gegensatz zur
Rechtschreibung hat hier der Mensch kein Eingriffsrecht. Es muss beobachtet, analysiert und anerkannt werden: Die Newtonschen
Gesetze (in der Formulierung einfacher, in der Anwendung um Größenordnungen schwieriger als alle Rechtschreibregeln zusammen)
sind von Newton nicht erlassen worden, sondern wurden als existierende Naturgesetze von ihm entdeckt und in Worte und Formeln gefasst.
Und wenn 250 Jahre später Einstein mit der Relativitätstheorie das Gesetzeswerk Newtons überarbeitete (ich vermeide das
Modewort "Nachbesserung"), dann behielten die Newtonschen Gesetze trotzdem ihre Gültigkeit: Der moderne Naturwissenschaftler
steht nur vor der Frage, bei seinem aktuellen Problem zum richtigen Gesetzeswerk zu greifen. Und wenn das schon manchmal gern
mit der berühmten Suche der Stecknadel im Heuhaufen verglichen wird, dann kann ich aus eigener Erfahrung beisteuern, dass ich manchmal sogar zunächst im falschen Heuhaufen gewühlt habe.
Die eigentliche Vertracktheit aber besteht bei der Ingenieurarbeit darin, dass die Richtigkeit der Lösung eines Problems nicht
diskutiert werden kann, es ist eine Lösung, oder es ist keine. Bitte verstehen Sie das nicht falsch: Natürlich gibt gute und weniger gute
Maschinen, zum Beispiel gute und nicht ganz so gute Autos in der Summe der Eigenschaften. Aber der Teufel steckt im Detail, und
für den Ingenieur merkwürdigerweise immer genau in dem Detail, für das er verantwortlich ist. Ob eine Maschine eine erwartete
Eigenschaft hat oder nicht, ist bei eindeutiger Spezifikation - in der Ingenieurwelt kein Problem - schlicht mit ja oder nein zu beantworten.
Ob ein Auto den eindeutig definierten Elchtest besteht, war eine solche Frage. Und wenn durch Nachbesserung die Ingenieure für
das kleine Auto eines großen Herstellers schließlich eine Lösung fanden, dann wussten sie, dass es Gesetze gibt, die nicht auslegbar
sind. Sie haben sich keinen Anwalt nehmen können, um eine einstweilige Verfügung gegen das Fliehkraftgesetz zu erwirken und auch
nicht mit politischen Demonstrationen eventuell eine Nachbesserung der Newtonschen Gesetze erreichen wollen, sie haben das Auto
"nachgebessert". Vor und nach der Nachbesserung hatte das Auto eine Masse, einen Schwerpunkt, bei Kurvenfahrten treten
Fliehkräfte auf, die ein Moment hervorrufen usw. Und jede noch so feinsinnig ausgedachte Lösung genügt diesen unabänderlichen Gesetzen.
Und damit bin ich beim Thema "Grundstudium", dem eigentlichen Scharfrichter des Ingenieurstudiums. Da gibt es wenig (fast nichts)
zu diskutieren, daran müssen sich viele Studienanfänger wirklich erst gewöhnen: "Kraft ist gleich Masse mal Beschleunigung." Punkt.
Das ist es, und das gilt in der Mechanik. Und man braucht nicht die geringste Hoffnung zu hegen, dass selbst eine rot-grüne Koalition
die 4. Novelle zur 3. Durchführungsbestimmung zum 2. Hauptsatz der Thermodynamik erlässt. Die Hauptsätze der Thermodynamik gelten. Punkt.
Mit der Akzeptanz dieser Aussagen durch die Studenten hatten wir früher wenig - fast keine - Probleme. Auch da mussten wir in
den letzten Jahren eine Änderung registrieren. Ich zitiere einen Physiklehrer, der versucht hat, uns dieses Phänomen zu erklären: "Die
Tendenz ist gravierend in den Schulen hin zu den Fächern, in denen die Antworten auf Fragen in einem Diskussionsprozess gesucht
werden, und weg von den Problemen, die durch Messen oder Berechnen gelöst werden können." Ich erinnere mich noch sehr gut,
als meine Frau nach einer Mechanik-Vorlesung für Erstsemester-Studenten entnervt erklärte: "Morgen muss ich mich entschuldigen,
ich habe heute etwas heftig reagiert und gesagt: An der Lage des Schwerpunktes eines Körpers gibt es nichts zu diskutieren. Man
kann ihn berechnen oder experimentell ermitteln, und man kann beides richtig oder falsch machen. Weiter gibt es nichts." Ich selbst
habe auch oft in der Informatikausbildung den Verdacht gehabt, dass es für einige der größte Stress war, dass eine logische Variable
nur die Werte TRUE oder FALSE annehmen kann, ein MAYBE hätte wenigstens einen gewissen Spielraum für Diskussionen eröffnet.
Aber dies alles zu akzeptieren, ist letztendlich das kleinste Problem, man muss es auch verstehen, mathematisch fassen und
behandeln können, und diese Kombination der Naturwissenschaften mit der Mathematik ist ganz besonders schwierig. Ich gebe zu,
meinen Argumenten für eine solide Grundausbildung ist am vergangenen Sonntag ein gewichtiges Gegenargument entgegengesetzt
worden. Mit Entsetzen registrierte ich das Ergebnis der diesjährigen Formel-1-Saison: "Konstrukteursweltmeister" – was für ein
Wort, was für ein Titel – wurde ausgerechnet die Firma, der beim Ausmessen eines nur etwa 20 cm breiten Blechs 10 mm Toleranz
zugebilligt werden musste, um im Limit zu bleiben, und deren Mitarbeitern beim Reifenwechsel auf dem Nürburgring das fehlerfreie
Zählen bis 4 so gründlich misslungen ist. Wir werden trotzdem unsere Grundausbildung nicht einfacher machen können.
Sie haben das naturwissenschaftlich-technische Grundstudium schließlich gemeistert, liebe Absolventen, und sicher werden sie jetzt
sagen, dass es damit ja nicht getan war. Nein, damit fängt eigentlich in der Ingenieurwelt alles erst an. Denn mit dem Beherrschen der
Naturgesetze allein wird noch keine Maschine gebaut, setzt sich keine chemische Reaktion in Gang, zumindest nicht die, die man sich wünscht.
Aber Sie haben konstruieren und analysieren, messen und recherchieren, experimentieren und auswerten und viele andere Verfahren
und Methoden nicht nur gelernt sondern trainiert. Sie sind mit einem soliden Basiswissen und der Methodik ausgestattet worden,
dass Sie eigentlich nichts von dem, was im Berufsleben auf Sie zukommen kann, schrecken dürfte. Der Ingenieurstudent kann schon
deshalb nicht alles lernen, was er im Berufsleben brauchen wird, weil schon in wenigen Jahren Wissen benötigt wird, das es heute noch gar nicht gibt.
Als ich vor gut 30 Jahren – so wie Sie heute – als Dipl.-Ing. in das Berufsleben entlassen wurde, gab es noch keinen PC, nicht
einmal Taschenrechner waren auf dem Markt, natürlich gab es kein CAD-System, kein Faxgerät, kein Handy, keinen Scanner,
Drucker konnten nur Typen hämmern, die Bilder für die Diplomarbeit wurden eingeklebt. Die Aufzählung ließe sich beliebig
fortsetzen, und kein Mensch weiß, was Sie in 30 Jahren über die Situation zum Zeitpunkt ihrer Diplomierung sagen werden. Aber Sie
sind wie ich vor 30 Jahren mit einer soliden naturwissenschaftlichen Grundausbildung ausgestattet worden, die auch in 100 Jahren
noch gelten wird, und Sie sind wie ich in den Methoden und Verfahren der Problemlösung trainiert worden, und Sie haben "lernen gelernt", die vielleicht wichtigste Eigenschaft für die Zukunft.
Sie kommen auf einen Arbeitsmarkt, der gut ausgebildete Ingenieure sehnsüchtig erwartet. Und Sie dürfen Ihren Arbeitgebern sagen,
dass das Angebot für diese wertvolle Ware in den nächsten Jahren noch drastisch zurückgehen wird. Einige Zahlen: Im zurückliegenden Jahr hat dieser Fachbereich genau 250 Diplomingenieure produziert, das entspricht noch
exakt einem normalen "Vertriebsergebnis", würde man in der freien Wirtschaft sagen. Nach den Studentenzahlen, die wir gegenwärtig in den einzelnen
Semestern hier im Haus haben, kann ich hochrechnen, dass aus der Zahl 250 im Jahre 2002 eine 120 werden wird.
Die 250 Absolventen des letzten Jahres waren durchschnittlich an dem Tag, der auf Ihrer Diplomurkunde als Tag der Diplomierung
vermerkt ist, 29 Jahre und 8 Monate alt. Dieses – wie ich meine – zu hohe Durchschnittsalter unserer Absolventen hat aber nur sehr
wenig mit zu langen Studienzeiten zu tun. Der "mittlere Studienanfänger" des gerade begonnenen Wintersemesters wurde am 25. Februar 1975 geboren, wird also am Ende seines ersten Semesters seinen 25. Geburtstag feiern.
Merkwürdigerweise habe ich in den öffentlichen Diskussionen über den zu späten Eintritt unserer Hochschulabsolventen in das
Berufsleben bisher das Argument "Es wird im Mittel zu spät mit dem Studium begonnen" noch nicht gehört. Neben den Mittelwerten
sind vielleicht noch die Extremwerte interessant: Der jüngste Studienanfänger dieses Wintersemesters ist in der vorigen Wochen 19
Jahre alt geworden, der älteste wird noch im Laufe seines ersten Studiensemeseters das 44. Lebensjahr vollenden. Auch bei den
Absolventen des letzten Jahres liegen die Extremwerte weit auseinander (beide könnten hier anwesend sein): Der Jüngste war 23,87 Jahre alt am Tag der Diplomierung, der Älteste 47,33 Jahre.
Liebe Absolventen, so traurig wir auch sind, dass mit Ihrem Weggang die Gesamtzahl der Studenten des Fachbereichs weiter sinkt,
denn nach wie vor ist die Anzahl der Studienanfänger deutlich geringer als die Absolventenzahl, so freue ich mich doch, nicht in der
Lage meiner Amtsbrüder z. B. der Architektur, der Bibliothekswissenschaft und mehrerer anderer Fachbereiche der FH, aber auch
der Universität Hamburg zu sein, die ihren Absolventen nur tröstende Worte für den Start in ein mehr als unsicheres Berufsleben
mitgeben können. Alle Diplomingenieure der vier Studienrichtungen, die zur Zeit unseren Fachbereich verlassen, werden auf dem
Arbeitsmarkt erwartet, und aus den Zahlen, die ich Ihnen nannte, können Sie hochrechnen, dass in etwa 3 Jahren, wenn vielleicht gerade Ihr zweiter Karriereschritt ansteht, die Situation für die Ingenieure noch viel besser sein wird.
Und weil Sie nun schon oder sehr bald sehr gutes Geld verdienen, noch abschließend ein heißer Steuerspar-Tipp: Diese Feier wird
ausgerichtet vom Freundeskreis Maschinenbau und Produktion, der auch das jährliche Absolvententreffen im Februar sponsert.
Dazu werden Sie in jedem Fall eingeladen, auch wenn Sie nicht Mitglied des Freundeskreises sind. Ich würde es allerdings für eine
prächtige Idee halten, wenn Sie eines der kleinen mit dem schlichten Wort "Beitrittserklärung" überschriebenen Kärtchen, die hier im
Raum überall wie zufällig herumliegen, ausfüllen würden, denn der ohnehin geringe Beitrag ist steuerlich absetzbar, und das ist bei den
guten Aussichten für Ihre Gehaltsentwicklung in den nächsten Jahren eine ideale Möglichkeit, Ihre immense Steuerlast zu reduzieren.
Ich wünsche Ihnen, liebe Absolventen, im Namen aller Angehörigen des Fachbereichs Maschinenbau und Produktion einen so
erfolgreichen Berufsweg, wie Sie ihn sich mit dem Durchstehen dieses wahrlich nicht leichten Studiums verdient haben. Viel Erfolg!