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Haben und Sein
Liebe Absolventen des Examens-Jahrgangs 1948 (Gelächter im
Publikum wegen des vermeintlichen Versprechers), liebe Absolventen des Jahrgangs 1998, sehr verehrte Gäste, liebe Angehörige des Fachbereichs,die Hauptpersonen der heutigen Veranstaltung, die frischgebackenen
Diplom-Ingenieure des Jahres 1998, werden es mir sicher verzeihen, dass ich diejenigen, die hier in diesem Hause an unserer Vorgänger-Einrichtung, der Ingenieurschule der Freien und Hansestadt
Hamburg, vor exakt 50 Jahren erfolgreich ihr Studium abgeschlossen haben, zuerst genannt habe. Es ist für uns eine besondere Ehre, Sie, liebe "48er", wie ich Sie voller Hochachtung nennen möchte, in unserer Mitte zu wissen.Entschuldigen muss ich mich bei allen Anwesenden, dass wir Sie auf
eine Baustelle eingeladen haben. Allerdings ist das für uns mit einer gewissen Freude verbunden, denn dass diese Aula noch in diesem
Jahrtausend renoviert wird, hatte kaum jemand zu hoffen gewagt (neue Lampen haben wir schon, und dort hinten hat ein Maler schon ein durchaus noch zu Diskussionen Anlass gebendes Farbmuster hinterlassen).
Natürlich kann ich der Versuchung nicht widerstehen, mit 48er und 98er Absolventen in einem Raum einen Bogen über die 50 Jahre
zu spannen, die ja auch fast die gesamte Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ausmachen. Ich verspreche allerdings, dabei
nicht den Zeigefinger zu heben, um den heurigen Absolventen zu erklären, wie schwierig es vor 50 Jahren war. Wer wollte auch
entscheiden, was stressiger ist: Sich zum bescheidenen BAFÖG abends und an Wochenenden soviel hinzu zu verdienen, um sich für
den Computer noch eine neue Graphikkarte leisten zu können, oder, wie es Herr Delfs mir berichtete, auf dem Schwarzmarkt die
Raucherkarte so zu verhökern, dass davon der Lebensunterhalt für einige Tage bestritten werden konnte (ich kann das jetzt hier nicht
erklären, für die jüngere Generation nur soviel: Graphikkarten und Raucherkarten sind extrem unterschiedliche Dinge). Gar nicht
erwähnen sollte ich eigentlich die Story (heute hört es sich so an, damals war es eher ein Drama), dass Ihnen beinahe die
Währungsreform im Jahre 1948 das Examen unmöglich gemacht hätte, weil Sie nicht wussten, wie Sie von den 40 DM, mit denen
alle starten mussten, die Examensgebühren bezahlen sollten. Aber nach dem Regierungswechsel in Bonn erscheint es mir geradezu
gefährlich, Worte wie Studien- oder gar Examensgebühren selbst in historischen Zusammenhängen in den Mund zu nehmen.
Schwierig war und ist es allemal, das Ingenieurstudium. In unserem gut sortierten Archiv hat Frau Krämer tatsächlich die Listen für
die Versetzung der Klasse M2c nach M3c aus dem Jahre 1947 gefunden. Und darin kann man lesen, mit welchen Fächern man Sie
seinerzeit gequält hat: Mathematik, Mechanik, Stoffkunde. Heute haben die Fächer zum Teil Vornamen: Technische Mechanik,
Werkstoffkunde, und vielleicht ist es tröstend für die nachfolgenden Generationen, dass es ihren Vorgängern wahrlich nicht besser ergangen ist. Und wenn man sich vorstellt, was den Ingenieuren des Examens-Jahrgangs 48 in ihrem Berufsleben begegnete, wovon man 1948 nicht einmal etwas ahnen konnte, dann bekommt man vielleicht eine
Ahnung davon, was Ihnen, liebe Absolventen des Jahrgangs 1998, alles widerfahren wird. Wenn Sie durch die Labore unseres Hauses gehen, sehen sie unendlich viele Dinge, die es 1948 noch gar nicht
gab. Der Begriff Laser z. B. taucht erst Jahrzehnte später auf, heute schweißen und schneiden wir mit dieser Technologie, am Drucker, am Kopierer, am Faxgerät steht dieses Wort, das man 1948 auch
deshalb nicht an diese Geräte schreiben konnte, weil es weder Drucker, Kopierer noch Faxgeräte gab. Es gab 1948 noch keine Atomkraftwerke, wir
haben hier im Haus über zwei Jahrzehnte einen Kernreaktor betrieben, der nun auch bereits (wenn auch nur vorläufig, aber das wäre
wieder eine eigene Geschichte) stillgelegt ist. Computer gab es 1948 schon, ganz wenige, in Hamburg keinen, und die wenigen füllten
jeweils ganze Säle, bei einer Rechenleistung bzw. Speicherkapazität, mit der heute kein Hersteller mehr einen elektronischen Taschenkalender auf den Markt bringen würde.
Das alles (und vieles mehr) stand vor den Absolventen des Jahrgangs 1948. Was alles vor Ihnen steht, liebe Absolventen des
Jahrgangs 1998, kann man so wenig ahnen, wie die 48er ihr Berufsleben erahnen konnten. Aber: "Dem Inschinör ist nichts zu
schwör". Er kann gar nicht lernen, was er in seinem Arbeitsleben brauchen wird. Er braucht ein solides Basiswissen und muss die
Methoden zur Lösung von Problemen nicht nur erlernen, sondern trainieren. Das haben wir hier mit Ihnen betrieben. Sie haben
denken gelernt wie ein Ingenieur, und Sie haben lernen gelernt. Es wäre schon interessant zu wissen, was Ihnen der Dekan im Jahre
2048, wenn Sie hier als diejenigen sitzen werden, die vor 50 Jahren verabschiedet wurden. Wahrscheinlich aber würden wir gar
nicht wissen, wovon er redet, denn was hätte man vor 50 Jahren mit Begriffen wie Laser und Fax anfangen können. Es wird aber
auch Ähnlichkeiten zu meiner Rede geben. Ganz sicher glaube ich prophezeien zu können, dass sich auch der Dekan im Jahre 2048
für den Zustand der Aula entschuldigen wird, wahrscheinlich mit dem Hinweis, dass die letzte Renovierung in den Jahren 1998/99 durchgeführt wurde.
Wir haben Sie auf Ihr Berufsleben gut vorbereitet, da sind wir ganz sicher. Gehen Sie es optimistisch und selbstbewusst an. Es gibt
angenehmerweise einen wesentlichen Unterschied in den Startbedingungen der 48er und 98er Absolventen. Im Jahre 1948 folgte
nach dem Ende des Studiums für die meisten eine längere Zeit der Arbeitslosigkeit. Sie, liebe 98er Absolventen, kommen auf einen
Arbeitsmarkt, auf dem Ingenieure gesucht werden. Wir sehen das mit einem lachenden und einem weinenden Auge, denn noch
können wir den Markt mit der gewohnten Anzahl von Absolventen beliefern. Der Dekan dieses Fachbereichs unterschreibt an jedem
Tag, an dem er an seinem Schreibtisch hier im Hause sitzt, im Schnitt etwa ein Diplom. Das wird sich ändern. Wenn ich die
Studentenzahlen der nachfolgenden Semester betrachte, muss ich erwarten, dass diese Zahl in den nächsten drei Jahren bis auf etwa
0,4 Diplome pro Arbeitstag absinken wird. Und weil die Situation in fast allen ingenieurwissenschaftlichen Fachbereichen deutscher
Hochschulen ähnlich ist, können wir mit Sicherheit prognostizieren, dass in wenigen Jahren Ingenieure händeringend gesucht werden.
Und hier knüpfe ich gleich eine Bitte an: Wenn Sie Kontakt mit Schülern haben, erzählen Sie, wie schön der Ingenieurberuf ist, dass
das Studium wohl nicht ganz leicht, aber hochinteressant ist. Werben Sie für diesen Beruf, noch besser: Werben Sie dafür, bei uns am Berliner Tor im Fachbereich Maschinenbau und Produktion zu studieren.
Sie werden es gemerkt haben, liebe 48er, und, so hoffe ich, verzeihen, dass ich mich nun voll den Hauptpersonen des heutigen Tages
zugewendet habe. Dieses Ereignis ist ja auch in Ihrem Interesse, die Sie inzwischen wohlverdient Ihre Renten und Pensionen
verzehren (dieses Stichwort erinnert mich daran, dass ich die ebenfalls ihre Pensionen genießenden früheren Professoren unseres
Fachbereichs, die heute hier anwesend sind, auch ganz herzlich willkommen heiße: Herr Ehrensenator, meine Herren Professoren im
Ruhestand, wir freuen uns, dass Sie der Einladung gefolgt sind). Im Interesse aller Pensionäre und Rentner ist diese Veranstaltung ja
durchaus auch. Schließlich vermehren wir gerade die Anzahl der Steuer- und Sozialbeitragszahler erheblich. Man könnte unsere
heutige kleine Feierstunde ganz banal überschreiben: Der Steuerzahler ernennt seine Nachfolger (die schlechte Nachricht für alle
Steuerzahler in diesem Raum will ich nicht verschweigen: Mit der Ernennung der Nachfolger wird uns nicht erlaubt, in den Steuerzahler-Ruhestand zu treten).
Das soll Ihnen, liebe Absolventen, nicht etwa Angst einjagen. Das feinsinnig ausgedachte Steuer- und Abgabenkonzept, das auf Sie
lauert, bekommt es merkwürdigerweise immer wieder hin, dass die Gesamtabzüge irgendwie doch immer unter 100% liegen. Und
für Sie kommt das schöne Gefühl hinzu, vom Kostgänger des Steuerzahlers zu seinem Partner zu werden. Wenn ich den
Gesamtbetrag, der alle Ausgaben (einschließlich der Pensionslasten für Professoren im Ruhestand), die unser Fachbereich in einem
Jahr verursacht, durch die Anzahl der Produkte (sprich: Absolventen) teile, komme ich auf eine Zahl zwischen 80.000 und 90.000
DM, die für einen Absolventen zu veranschlagen ist. Sie, liebe Absolventen, werden erstaunt sein, wie schnell das Finanzamt einen Betrag dieser Größenordnung bei Ihnen wieder eintreibt.
Liebe Absolventen des Jahrgangs 1998: Sie haben es geschafft, Sie sind Dipl.-Ing. Und durch die Betonung der beiden Hilfsverben
dieses kleinen Satzes habe ich eigentlich alles ausgedrückt, was ich Ihnen mit auf den Weg geben möchte. Als typischer Ingenieur,
der natürlich das Fahrrad nicht täglich neu erfindet, habe ich diesen Hilfsverb-Trick bei den Fachleuten des Wortes
(Kompetenzträger sagt man heute), den Schriftstellern und Philosophen abgeguckt. Sie erinnern sich: "Sein oder Nicht-Sein" war
wohl der erste große Satz, der fast ausschließlich vom Hilfsverb lebte. Meine Anleihe geht aber nicht auf Shakespeare, sondern auf
den Philosophen Erich Fromm zurück, zu dem man stehen kann, wie man will: Sein dickes Buch "Haben und Sein" hat diese beiden
unscheinbaren Worte geradezu berühmt gemacht. Auf vielen hundert Seiten philosophiert er darüber, was Menschen gern haben und
sein wollen, und stellt immer wieder fest, dass "Haben" beliebter, weil bequemer, als "Sein" ist. Er teilt die Menschen schließlich in
Haben-Typen und Sein-Typen ein und lässt keinen Zweifel daran, auf welcher Seite seine Sympathien liegen. Ich habe ein Haus, ich habe ein Auto oder (um hier im Hause zu bleiben): Ich habe
ein teuer eingerichtetes Labor. Klingt alles gut und ist als Statussymbol zur Besichtigung zugängig. Fleißig, intelligent, geschickt oder (um wieder auch ein Beispiel aus dem Haus
anzuführen) "Spitze in Lehre und Forschung" zu sein, ist alles eher anstrengend und aufwendig.
"Haben" ist einfacher als "Sein", das fängt beim Konjugieren an: Ich habe, du hast, er, sie, es hat. Ich habe in einer Studentenrunde
einmal den Test gemacht und unvermittelt gebeten: Konjugieren Sie bitte mal das Hilfsverb "Sein". Als erster zeigte sich der einzige
ausländische Student in der Runde vom Schock der Frage erholt und konjugierte: Ich bin, du bist, er, sie es ist. Den Titel Dipl-Ing. zu haben, ist schön, man sollte stolz darauf sein. Dipl.-Ing. zu sein
ist anstrengend bis schweißtreibend, aber noch viel schöner. Sie haben viel gelernt, das genügt nicht. Aber Sie sind in der Lage, mit den Methoden und der Denkweise, für
die Sie trainiert worden sind, beinahe beliebig komplizierte Probleme zu meistern. Sie haben als Dipl.-Ing. einen der schönsten Berufe der Welt, nun müssen Sie Dipl.-Ing. sein.
Die meisten von Ihnen haben die Technische Mechanik durchlitten, und die Chemieingenieure, denen dies erspart blieb, werden
meine Frage ganz gewiss trotzdem verstehen: Haben Sie eigentlich bemerkt, dass in der deutschen Sprache die Statik mit "Haben" konjugiert wird, die Dynamik dagegen mit "Sein"? Sie haben
heute Nacht im Bett gelegen, sie haben ab 11 Uhr hier gesessen und Sie haben ab 12.30 am Sektbuffet zu stehen. Aber Sie sind hierher gelaufen, oder Sie sind hierher
gefahren, vielleicht sind Sie sogar hierher geflogen. Jede Art von Bewegung aber wird mit "Sein" konjugiert. Das gilt, nebenbei bemerkt, nur für "Deutsch im engeren Sinne". Der
Österreicher konjugiert auch die Ruhe mit "Sein": "I bin im Kaffeehaus gesessen", ist möglicherweise aus der Sicht unserer südlichen
Nachbarn auch ein besonders dynamisch verbrachter Nachmittag gewesen. Ich möchte nicht werten, vielleicht sollte die Lebensphilosophie, die sich darin ausdrückt, unseren Neid erregen.
Das kommende Wochenende, liebe Absolventen, will ich Ihnen noch gönnen: Lehnen Sie sich zurück und genießen Sie das Gefühl, den erstrebten Titel Dipl.-Ing. endlich zu haben. Ab Montag erwarten wir, dass Sie Dipl.-Ing. sind
. Ich wünsche Ihnen im Namen aller Angehörigen des Fachbereichs Maschinenbau und Produktion für Ihren Berufsweg und im privaten Bereich alles erdenklich Gute.
Und am Ende dieser kleinen Rede, die ich vor Ihnen halten durfte, wage ich es einfach nicht, im letzten Satz das vornehme Hilfsverb
"Sein" zu strapazieren. Deshalb danke ich Ihnen ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit und zitiere einen berühmten Italiener: Ich habe fertig. |
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